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[Workshop] Koloniale Vergangenheit und die Herrnhuter Brüdergemeine

Im Rahmen des zweiten „Digital Humanities“-Workshops „Loskiel, Latrobe, Quandt — Erschließung (und Analyse?) von Missionsnarrativen“ vom 11. bis 13. Februar 2019 bereicherte Ulrich Burkhard einen Vormittag lang die Arbeiten an Missionsnarrationen Herrnhutischer Provenienz mit seinen Lebenserfahrungen aus der Innenperspektive der Gemeine.

Mission und Plantagenwirtschaft. Bildquelle: http://www.herrnhuter-projekte-weltweit.de/projekt/losungsspende/surinam/.

Der Eindruck, dass das Phänomen des „Kolonialismus“ weitgehend aufgearbeitet sei, zielt meist nur auf die „Geschichte von oben“ und die nationalstaatliche, eurozentrische Ebene. Burkhard ist der Auffassung, dass

Einblicke in Einzel- oder Familienschicksale, z.B. von Mitgliedern der Herrnhuter Gemeinschaft, wichtiges Korrektiv bisheriger Sichtweisen sein können.

Mit dem Blick auf linguistische Details lassen sich diese Sichtweisen in wiederkehrenden sprachlichen Mustern europäischer Narrative in großen, bisher kaum vermessenen Textarchiven erkennen, die die Denk- und Fühlweise jener Menschen bergen, die hoch motiviert den europäischen Lebensraum, sei es zeitlich oder für immer, verlassen haben. Da die Herrnhuter in der Kolonialzeit an fernen und geostrategisch wichtigen Stellen operierten, z.B. bei der Besiedlungs- und Gründungsphase der USA, der Entfaltung der karibischen Plantagenwirtschaft und dem damit verbundenen Sklavenhandel, bei der Transformation von Kolonien zu unabhängigen Staaten (man denke an Suriname oder Tansania), beherbergen die „Geschichten von unten“ dieser Gemeinschaft einen noch nicht gehobenen Fundus an Forschungsmaterialien.

Paramaribo und Surinam (Moravian Atlas 1853)

Dass auf dieser „kleingeschichtlichen“ Ebene Ulrich Burkhard im nordhessischen Witzenhausen (das wie Herrnhut eine kolonialgeschichtliche Vergangenheit hat) der Komplexität seiner kolonialen Familienherkunft auf die Spur gekommen war und dabei auf die linguistischen Forschungen von Prof. Dr. Alexander Lasch aufmerksam wurde, mag dem Zufall zu verdanken sein. Im Kontext der Bestrebungen, Wissenschaft und Öffentlichkeit zu verbinden und nach geeigneten Projekten zu suchen, Open Science und Citizen Science konkret auszugestalten, ist dann die Einladung von Burkhard nach Dresden zu verstehen.

Ausgangspunkt für den gemeinsamen Austausch war sein Film „Der letzte Missionar, mein Großvater Walter Burkhard, Suriname und Herrnhut“, der für alle eine große Bereicherung darstellte. In den Mittelpunkt seines Filmes setzte der Enkel des Herrnhuter Missionars einen Text, den sein Großvater 1925 von Paramaribo nach Niesky zur Veröffentlichung übermittelt hatte. Durch diesen und viele andere ihm hinterlassenen Texte ging der heute 66jährige Burkhard auf die Spurensuche, um nicht nur Denkart und Denkweise seines Großvaters verstehen zu lernen, sondern auch auf eine europäische Perspektive auf Kolonialgebiete schließen zu können. Ulrich Burkhard ist es wichtig, klar herauszustellen, dass Herrnhuter Familien oft aus vielen Regionen Europas stammten und durch die Anziehung einer damals als „innovativ“ empfundenen Denkwelt vereint wurden. Burkhards Fazit ist: Herrnhuter waren mehrheitlich europäische Migranten und daher herausgefordert, kleine vernetzte Kolonien zu bilden. Dass 1925, im weit entfernten Suriname, „Volk“ und „Deutschtum“ für Deutsche und damit auch für Walter Burkhard immer mehr ins Zentrum rückten, stand dazu in einem krassen Widerspruch und lässt sich weder vor seiner internationalen Familiengeschichte, noch vor der Herrnhutischen Ideologie, sondern nur aus der besonderen politischen und gesellschaftlichen Lage zwischen den beiden Weltkriegen in Europa erklären.

Am Ende des Seminars lenkte Burkhard noch den Blick auf seine eigene Biografie, die von der Wucht der Herrnhuter Kolonialgeschichte nicht unberührt geblieben war. In jungen Jahren absolvierte er ein Ingenieurstudium in „tropischer Plantagenlandwirtschaft“. Jahrzehnte später, bei seiner ersten Reise nach Suriname 2016, entdeckte er genau hier jene Plantagenkulturen wieder, denen einst sein Studienfokus galt und deren Produkte bis heute das Tropengewächshaus der Universität Kassel in Witzenhausen für akademische Zwecke beherbergt: Zuckerrohr, Kaffee, Kakao, Mais, Tee, Reis, Baumwolle, Bananen, Südfrüchte und viele mehr. Die einst versklavten Menschen aus Afrika, auf deren Schultern „namen- und rechtelos“ diese gewinnorientierte und menschenverachtende Landwirtschaft zum wirtschaftlichen Wohle Europas getragen wurden, leben in der heutigen Bevölkerung weiter. Nach der Sklavenbefreiung 1863 wurden zur Fortsetzung dieser gnadenlosen landwirtschaftlichen Produktion bald Kontraktarbeiter aus vielen Regionen Asiens eingeführt. Die Bevölkerung Surinams ist heute ein einzigartiges Konglomerat, in dem die ursprünglichen Herkünfte immer weniger präzise differenzierbar sind und von der Bevölkerung immer weniger beansprucht werden. Mitten in diesem einzigartigen Prozess, der nirgendwo vergleichbar stattgefunden hat, standen über 200 Jahre die Herrnhuter als Akteure.

Nach diesem Auftakt sind weitere gemeinsame Veranstaltungen geplant.

 

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