Im Take/Stay Home Exam zur Vorlesung „Reformation(en) und Revolutionen“ fasst Anna Marie Fichtl diesen lesenswerten Essay ab, der zur Orientierung dienen mag.
Wolf Biermanns Lied „Ermutigung“ und das von Feeling B gecoverte „Unter dem Pflaster“ sprechen beide über Machtstrukturen und das gemeinschaftliche oder individuelle Angehen dagegen. Ich beschränke mich darauf, zu untersuchen, wie das System der Herrschenden dargestellt wird, welche Machtstrukturen es impliziert, wie das lyrische Ich ermuntert, dagegen vorzugehen und welchen Effekt die Appelle anstreben. Dabei verzichte ich darauf, zu betrachten, welchen Einfluss die Interaktionsarchitektur auf die Wirksamkeit und Bedeutung der Appelle hat und welche Diskursakteursrollen sich aus den Machtthematisierungen ergeben.[1]
Nach Foucault ist Macht „auf Handeln gerichtetes Handeln“[2], die Einschränkung oder Gewährung von Handlungsmöglichkeiten und Freiheitsgraden. Erst wenn sich eine Person oder eine Gesellschaft der Machtstrukturen bewusst ist, kann sie dagegen in den Widerstand gehen. Sowohl Biermann als auch Feeling B konkretisieren nicht, wer Beherrschte und Herrschende im realen System sind, doch zeichnen sie Eigenschaften der Herrschenden nach, implizieren deren Wirkmächtigkeit auf das Subjekt und etablieren den Appell an ein Du, sich diesen Übergriffen zu entziehen. Während Feeling B nur ein unbestimmtes „sie“ (vgl. 2,6), das auf irgendeine Art Macht über das Du hat, etabliert, erklärt Biermann explizit, dass er das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten bespricht (vgl. 2,3).
Doch war es auch Wolf Biermann als Künstler der ehemaligen DDR verwehrt, offen Missstände in Politik und Gesellschaft anzusprechen. Er schafft eine alternative Form des Sprechens über das System und die Herrschenden: Er bespricht allgemein die Eigenschaften seiner Zeit. Vorherrschende Denkstrukturen prägen die Zeit, das Klima, in dem eine Gesellschaft lebt und wirken sich über die Machtstrukturen auf das Leben des einzelnen Gesellschaftsmitgliedes aus. Welche Handlungen möglich und unmöglich sind oder unmöglich gemacht werden, wirken sich auf das Lebensgefühl, auf das Empfinden der Zeit aus. Wenn Biermann also die Eigenschaften der jetzigen Zeit expliziert, dann charakterisiert er damit auch das System, das das Zeitgefühl durch seine auf die Individuen der Gesellschaft wirkenden Machtstrukturen prägt – gleichzeitig aber auch die Herrschenden als Vertreter dieses Systems. Dennoch macht er sich damit weniger angreifbar, denn auf der Oberfläche stellt er allein eine allgemeine Zeitdiagnose an, keine explizit politische. Als harte (vgl. 1,2), bittere Zeit (vgl. 2,2), als Schreckens- und Schweigezeit (vgl. 3,2) benennt er sie und markiert eben jene Verse auch musikalisch durch einen folgenden lauter, eindrücklicher gespielten Akkord, der die Harmonie bricht. Mit der „harten Zeit“ (vgl. 1,2) eröffnet Biermann mehrere Dimensionen: einerseits könnten die Herrschenden hart und spitz sein – ungerecht, verletzend gegenüber den Beherrschten; andererseits ihre Ideologie mit ihrer Verschlossenheit gegenüber Neuem und ihrer Härte gegenüber den Beherrschten so „hart“ und zu „hart“, dass sie dadurch bricht und in der Gesellschaft keinen Bestand haben kann. Bitter ist das System, verbittert die Herrschenden, wenn sie nicht einmal vor dem Leid der Beherrschten erzittern (vgl. 2,1 und 2,5). Sie schrecken die Beherrschten ab, versuchen sie in eine Furcht zu treiben, die den Aufstand bannt, bevor er ausbrechen kann (vgl. 3,2 und 3,4f.). Eine Zeit des Schweigens ist es: eine Zeit, in der die Beherrschten von den Herrschenden am Dialog, am offenen Sprechen gehindert werden (vgl. 5,2). Die Zeit, das System und die Herrschenden werden als destruktiv, kalt, von Gefühlen entfremdet gezeichnet.
Aber bleibt das Lied doch nicht deskriptiv: Es stellt den Zeitdiagnosen des je zweiten Verses der Strophe den Appell an ein unbestimmtes, vom Rezipienten auszufüllendes Du voran. Es ist der Appell, dem Einfluss der Zeit zu trotzen und sich eben jene Eigenschaften, die die Zeit, damit auch das System und die Herrschenden auszeichnet, nicht aneignen zu lassen (vgl. 1,1 und 2,1) und den Übergriffen durch das System zu widerstehen (vgl. 3,1 und 4,1).
Indem Biermann im Imperativ die sprachliche Struktur „lass dich nicht x“ – und nicht etwa „werde nicht x“ – verwendet (vgl. 1,1; 2,1; 3,1; 4,1), impliziert er, dass es einen externen Akteur gibt, der vom Du verschieden ist, gegen den es zunächst mindestens passiven Widerstand zu leisten gilt im Sinne des Imperativs „lass dich von y nicht x“. Diese Leerstelle des Akteurs kann nun mit dem Schluss von Zeit auf System und Herrschende wieder von eben jenen gefüllt werden. Sie üben äußeren Zwang auf das Du aus und indem Biermann diese Imperative anführt, zeigt er den dahinterliegenden Machtmechanismus auf.
Durch die einleitenden Worte in der Vortragssituation als Ermutigung für Ermutiger gerahmt, entwickelt das Lied eine Deontik, die auf das Gemeinschaftsgefühl und die Hoffnung der Widerstand Leistenden zielt. Die Hoffnung setzt bereits in den ersten beiden Strophen ein: das vielleicht verfestigt scheinende System vollzieht bereits unwillkürliche Bewegungen, die durch die eigene Härte, mit denen sie den Ermutigern beikommen, ausgelöst werden. Es bricht (vgl. Strophe 1) und erzittert (vgl. Strophe 2). Das Machtverhältnis beginnt sich umzukehren. Diese zu Beginn kleine Hoffnung – auch dadurch gesät, dass die eigene Verhaftung das System zum Wanken bringen kann – leitet Biermann in der vierten Strophe mit „Gebrauche deine Zeit“ (vgl. 4,2) zum ersten Mal in einen Appell zu aktivem Handeln um, indem er die zuvor etablierte Struktur der ersten beiden Verse variiert. Über die dargestellte Angewiesenheit des Du auf das Wir und des Wir auf das Du bricht der Inkludierungsprozess des Du in das Wir an und Biermann stellt auf das Gemeinschaftsgefühl ab (vgl. 4,4). Das Mittel des Widerstandes soll die „Heiterkeit“ (4,5) sein, die Heiterkeit des Du, des Rezipienten – das zeigt Biermann klar an der gesanglichen Betonung des „deine“ im Vers „Grad deine Heiterkeit“ (4,5). In Strophe 5 ist die Inklusion endgültig vollzogen: Biermann variiert den an das Du appellierenden ersten Vers der Strophen zu einem „Wir woll’n es nicht verschweigen“ und schließt das Du nun in die Gemeinschaft der Ermutiger ein. Die Hoffnung, die mit dem wankenden System einhergeht, bringt er nun mit der Metapher des aus den Zweigen brechenden Grüns (vgl. 5,3) zu ihrem Höhepunkt und ruft damit gleichzeitig das Bild des Frühlings – der Erneuerung, des Wachsens, des Lebendigen – auf, der dem kalten, grauen Winter folgt und aus ihm hervorgeht. Die neuen Ideen und Gesellschaftsentwürfe keimen auf. Bereits in Strophe 3 begonnen steht nun das Wir geschlossen dem „sie“ gegenüber. Aus dem Aufruf an den Einzelnen – aus dem Imperativ und dem Appell – ist ein aus der Gemeinschaft kommender Ruf „Wir wolln das allen zeigen“ (5,4) geworden, gemeinsam den neuen Gesellschaftsentwurf auszustellen.
Auch Feeling B ruft dazu auf, Machtstrukturen zu widerstehen, doch etablieren sie dafür keinen konkreten oder über Eigenschaften umrissenen Gegner. Dass es einen solchen allerdings gibt, implizieren sie mit der gleichen sprachlichen Struktur, die auch Biermann in seinen Strophenanfängen verwendet: „Du lass dich nicht erweichen“ (1,1). Nur zweimal präzisieren und bewerten sie die Zwänge, gegen die man angehen soll: Sie bezeichnen die Denkmuster des Systems abwertend als Krücken (vgl. 2,4) und die Handlungsträger dieser Zwänge könnten sie packen (vgl. 2,6), also gegen den eigenen Willen festhalten und übergriffig werden. Feeling B lenkt den Fokus von dem System, gegen das vorgegangen werden soll, auf die individuelle Haltung gegen etwas, ein grundlegendes Kontra gegenüber allem, was dem eigenen Willen widerspricht.
Ähnlich wie Biermann sprechen sie dabei diejenigen an, die noch standhaft gegenüber den wirkenden Zwängen sind – die sich also der Machtstrukturen bereits bewusst sind – und noch nicht „in ihre [der Herrschenden] Weichen“ (1,3) gerutscht sind. Diese Metapher ruft das Bild von Gleisen auf, die eindeutig bestimmen, in welche Richtungen sich das daran gebundene Objekt bewegen kann und welche Bewegungsmöglichkeiten ihm genommen sind. Weichen und Gleise schränken die Freiheitsgrade und Handlungsoptionen ein: Das angesprochene Du soll sich nicht vom Gedankengut der Herrschenden leiten lassen. Sie sprechen nicht nur über Machtstrukturen, sondern thematisieren auch konkret deren Funktionsweise als Einschränkung von Handlung („Du lass dir nichts erzählen, Was du zu lassen hast“ (1,5f.)) und zeigen den Gegenentwurf der freien Entscheidung auf („Du kannst doch selbst wählen“ (1,7)), die von allen fremden Machteinwirkungen entbunden ist. Allein der eigene Kern, das Innerste, die eigene Weltsicht, soll leiten und Handlungen bestimmen (vgl. 1,2).
Feeling B nutzt mehr Metaphern als Biermann, viele unterschiedliche, nicht verbundene und spricht mit ihnen – wie in der Weichenmetapher – über ausgeübte Macht und fremden Zwang. In der zweiten Strophe folgt die Metapher der drückenden Schuhe (vgl. 2,1f.), an die sich das Auf-Krücken-Gehen (vgl. 2,4) und Barfußlaufen (2,3) anschließen. Diese drei eint, dass sie die Fähigkeit, sich fortbewegen zu können, thematisieren. Mit drückenden Schuhen und Krücken geht das Du unter dem System; barfuß läuft es, wenn es sich davon befreit hat. Die drückenden Schuhe – die Zwänge, die das System ausübt – schränken die Bewegungs- und Handlungsfreiheit ein, erschweren das Gehen. Die Abhilfe bietet das System selbst: seine Denkmuster, seine Ideologie als Krücken, die, wenn man sie übernimmt, das Gehen erleichtern und helfen, die schmerzenden, drückenden Schuhe zu ignorieren. Doch Feeling B zeigt einen weiteren Ausweg, mit dem sich das Du der einschränkenden Schuhe und Krücken entledigen kann: beide abstreifen und barfuß gehen, frei von Zwängen, frei von aufoktroyierten Denkmustern. Es ist das völlige Freimachen vom System, außerhalb von ihm zu stehen, wie es die Punkszene nicht nur in diesem Lied, sondern ihrem ganzen Auftreten und Selbstverständnis zeigt. Diese barfüßige Freiheit geht gar so weit, dass man tanzen, sich drehen kann (vgl. 2,5), wie es auch im Video im wilden, verschwitzten entfesselten Tanz des Publikums und der Bandmitglieder selbst visuell lebt. Doch jenes Bewegliche, das Wendige braucht es auch, um den Fängen des Systems zu entgehen – ähnlich wie auch Feeling B selbst handelt: offiziell mit dem System interagieren und kooperieren, doch im Hintergrund wendig den eigenen Ideen, dem eigenen Kern, treu bleiben, die Freiheit vom Zwang leben und sich mit Kniffen dem Greifen des Systems entwinden.[3] Auch Feeling B sieht ähnlich wie Biermann die Heiterkeit, das laute Lachen (vgl. 2,8), das Vergnügen im Tanz (vgl. 2,5) als besten Widerstand gegen den Zwang. Im Refrain rufen sie eine weitere Metapher auf: die titelgebende des Pflasters (vgl. 1,9-1,12). Sand aus unzähligen kleinen Körnchen – vielleicht die Individuen, die unter der Macht der Herrschenden stehen – liegt unter wenigen großen, schweren Pflastersteinen – vielleicht den wenigen Herrschenden oder zumindest Macht Ausübenden – vergraben und ist doch das Fundament. Der Appell richtet sich an das Du, das das Lied anspricht; es wird aufgefordert auch einige Steine aus dem Pflaster, dem Sand zu reißen (vgl. 1,12) – den Beherrschten darunter Freiheit zu schenken, den Blick nach oben zu gewähren, Bewegung fort vom vorher durch das Gewicht, den Zwang des Pflastersteins zugewiesenen Platzes zu gewähren. Es ist ein Appell zu einem individuellen, nur durch das „auch“ indirekt in eine Gemeinschaftshandlung eingepassten Handeln. Lässt sie sich einerseits über das Oben und Unten deuten, erhält die Metapher doch durch das eingefügte „Strand“ (vgl. 1,10) eine weitere Dimension. Die großen Steine versperren den Weg zum Strand, einem Ort der Freiheit ganz am Rande einer Landmasse – einer Gesellschaft – wo Freude, Tanz und Feier sind.
Beide Lieder besingen Machtstrukturen und das Angehen dagegen, doch versuchen ihre Appelle unterschiedliche Effekte zu erzeugen: Biermann versucht Gemeinschaft unter den Ermutigern zu stiften, Hoffnung auf einen anderen, am Schluss des Liedes aufkeimenden Gesellschaftsentwurf zu schaffen, der aus dem alten erwächst. Seine Welt der Freiheit ist im Danach des jetzigen Systems, während Feeling Bs im Währenddessen liegt. Sie propagieren das Abseitssein vom System, die völlige Freiheit durch Lossagung, den individuellen Weg in den Widerstand und die Erfüllung und zeigen damit auch die eigene Lebensweise auf.
[1] Grundlage für alle Ausführungen sind die Vorlesungsfolien.
[2] Michel Foucault. 2005. Analytik der Macht. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 256.
[3] Interview mit Paul Landers von Arte Tracks. URL: https://youtu.be/sOwNYGhx30Q.